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Fast wie Familie
Aktualisiert am 21.03.2021 | Lesezeit 7 Min.
WGs sind nur etwas für Studenten? Von wegen: Im bayerischen Ottobrunn leben Menschen mit Demenz zusammen. Sie werden ambulant betreut, bewahren aber ihre Selbstständigkeit. Zu Besuch bei einem Projekt mit Zukunft.
Die Erinnerung verschwindet zwischen zwei Schlucken Kaffee. „Wer heiratet eigentlich?“, fragt Lieselotte Höfer* und schaut in die Runde. Gerade noch hat sie sich mit ihren Kindern angeregt über die anstehende Hochzeit von Enkel Christian unterhalten – über die Braut, die Gäste, die Torte und den Friseurtermin am Morgen. Schließlich will sie hübsch aussehen, wenn endlich mal die ganze Familie zusammenkommt. Doch von einem Moment auf den nächsten lässt ihr Gedächtnis die 94-Jährige im Stich. Tochter Sonja nimmt es mit Humor: „Bei sechs Enkelkindern kann man schon mal durcheinander kommen.“
Lieselotte und ihre Mitbewohner kommen oft durcheinander. Sie versuchen dann, mit der Fernbedienung zu telefonieren oder mit dem Telefon das Fernsehprogramm zu wechseln. Sie sitzen vor ihrer Suppe und überlegen, wozu der Löffel gut sein könnte. Sie reißen dreimal am Tag das Kalenderblatt ab, verwechseln Bananen mit Gurken, wollen Pullover als Hose tragen und begrüßen Familienmitglieder wie Fremde. Sie alle haben eine Form von Demenz, meist Alzheimer. Jene gefürchtete und unheilbare Krankheit, die wie ein Radiergummi durch das Gedächtnis fährt und dort Erinnerungen und Erfahrungen löscht.
Demenz ist eine traurige Diagnose. Die WG im bayerischen Ottobrunn aber ist ein bemerkenswert fröhlicher Ort. Nur ein paar Kilometer von München entfernt leben hier 16 Menschen in zwei Wohngemeinschaften zusammen – neun in der einen, sieben in der anderen. Die Zimmertüren in der WG sind immer offen, dazwischen liegt ein großer heller Flur. Geht man hindurch, wird sofort klar: Mit Pflegeheim hat das alles nichts zu tun. Es riecht nicht nach Desinfektionsmittel, sondern nach Plätzchen. Es gibt keine Patienten, sondern Bewohner. Jeder hat ein selbst eingerichtetes Zimmer mit Bad und Balkon und in jeder Ecke genießt Gemütlichkeit einen höheren Stellenwert als sterile Funktionalität. Die Räume sind lichtdurchflutet, die Architektur ist modern und die schicke Wohnküche sieht aus wie einem Ikea-Katalog entsprungen. Obwohl sie der größte Raum und das Herzstück der WG ist, platzt sie gerade aus allen Nähten: „Kaffeezeit“, erklärt Pfleger Johannes Toch und reicht schmunzelnd die Milchkanne herum. Alle Bewohner sind da, dazu ein paar Gäste aus der benachbarten WG, einige Angehörige und natürlich das Pflegepersonal. Es wird viel gelacht an diesem Nachmittag, die Stimmung ist gut. Die Hochzeit von Lieselottes Enkelsohn ist ein großes Thema und auch der Speiseplan für nächste Woche will besprochen werden.
Was gekocht wird, entscheiden die Bewohner selbst. Genauso wie die Zeiten, zu denen sie aufstehen oder zu Bett gehen wollen. Sie bestimmen auch, ob es ein guter Tag für einen Spaziergang ist und ob sie lieber Kniffel spielen oder in der Zeitung blättern wollen. Zwar strukturieren feste Termine zum Kochen und Essen sowie Angebote wie Ergotherapie, Tanz, Gesang und Gymnastik den Tag – strenge Regeln aber gibt es nicht. „Selbstständigkeit ist der wichtigste Teil des Konzepts“, sagt Jürgen Hoerner. Er ist Vorsitzender der Alzheimer Gesellschaft München Süd, die das Projekt gemeinsam mit der MARO Baugenossenschaft und der Diakonie realisiert hat. Wer sich für die WG interessiert, landet zuerst bei ihm. Meist muss er dann erst einmal erklären, was es damit überhaupt auf sich hat, denn noch ist die Wohnform wenig bekannt. In Deutschland gibt es momentan rund 1.000 Einrichtungen dieser Art. Hoerner hofft, dass sich das bald ändert. Jetzt, wo die WGs langsam bekannter werden und sogar die Politik darauf aufmerksam geworden ist. Die zum 1. Januar 2015 in Kraft getretene Pflegereform hat Demenzkranke stärker im Blick und sieht höhere Förderungen für ambulant betreute Wohngemeinschaften vor. Der WG-Aufenthalt wird durch eine Mischung aus Leistungen der Pflegeversicherung und privaten Zuzahlungen finanziert – die Leistungen aus der Pflegepflichtversicherung sind nun leicht gestiegen. Außerdem wird die Gründung einer WG mit bis zu 10.000 Euro bezuschusst.
Aktuell werden acht von zehn Alzheimer-Patienten zu Hause gepflegt, die anderen leben meist in Pflegeheimen. Beides birgt Schwierigkeiten. Die Pflege in den eigenen vier Wänden ist für Angehörige extrem belastend und erfordert Aufmerksamkeit rund um die Uhr. Obwohl körperlich oft noch erstaunlich agil, neigen Betroffene beispielsweise dazu, sich auszusperren und zu verlaufen, Herdplatten an- und Türen offenzulassen oder den Telefonhörer nicht richtig aufzulegen. Es kommt vor, dass sie sich im Flur erleichtern, weil sie den Weg zur Toilette vergessen haben oder nicht mehr ins Bad gehen, weil sie im Spiegel einen Fremden sehen. Hinzu kommen Stimmungsschwankungen. Alzheimer ist eine Krankheit mit sehr hässlichen Seiten und für Angehörige manchmal nur schwer zu ertragen. In Heimen wiederum mangelt es oft an der nötigen Kapazität und Kompetenz, um den besonderen Patienten gerecht zu werden. Strenge Regeln und strikte Tagesabläufe machen noch vorhandene Alltagskompetenzen schnell zunichte und in der stressigen Heimroutine fehlt dem Fachpersonal die Zeit, sich individuell um die Betroffenen zu kümmern.
In einer WG hingegen ist alles auf die Bewohner, in Ottobrunn sind sie zwischen 67 und 94 Jahren alt, ausgerichtet. Das fängt bei der Gestaltung der Räume an und hört beim Pflegepersonal auf. Die Pfleger sind Tag und Nacht anwesend, um zu helfen und zu unterstützen. Drei morgens, zwei am Nachmittag und einer in der Nacht. Trotzdem rückt der pflegerisch-medizinische Aspekt in den Hintergrund. Das Personal ist Teil der Gemeinschaft, Dauergast in der WG. Die Pfleger kochen, spielen, singen und reden mit den Bewohnern, gehen mit ihnen spazieren, hören zu, schlichten, wenn es Streit gibt, und nehmen sich Zeit für jeden Einzelnen. Das ist nur möglich, weil es weitaus mehr Betreuer als in Heimen gibt und überdies fast jeden Tag ehrenamtliche Helfer vorbeischauen. Alle hier kennen die Krankheit genau und wissen damit umzugehen. Auch dann, wenn mal jemand aggressiv, beleidigend oder handgreiflich wird. „Das kommt leider manchmal vor“, sagt Pfleger Johannes Toch. „Die größte Herausforderung im Umgang mit Demenzkranken sind ihre Launen. Man muss sich nicht nur auf unterschiedliche Menschen einstellen, sondern auch darauf, dass sich die Stimmung innerhalb von Sekunden ändern kann.“
In solchen Situationen sind die sogenannten Biografiebogen hilfreich, die für jeden WG-Mitbewohner existieren. Darin wird zusammen mit den Angehörigen die Vergangenheit der Bewohner so genau wie möglich skizziert. Das ist wichtig, um sie zu verstehen. Denn während das Kurzzeitgedächtnis zuerst durch die Krankheit angegriffen wird, erleben Betroffene lange Vergangenes sehr intensiv. Eine Bewohnerin zum Beispiel fährt momentan oft im Zug von der Schule nach Hause und schreit dabei nach dem Schaffner. In solchen Momenten ist diese Erinnerung für sie Realität – und die Pfleger spielen einfach mit. Ein anderer Bewohner verkroch sich bei lauten Geräuschen gern unter den Tisch – im festen Glauben, gerade einen Bombenangriff zu erleben. „Je mehr man über die Menschen weiß, desto eher kann man sich auf sie einstellen“, sagt Hoerner.
Auch wenn ihr früheres Leben immer mehr verblasst, bleiben doch viele Eigenheiten. In der WG ist das offensichtlich: Die ehemalige Oberstudienrätin verschlingt noch immer jede Zeitung und belehrt gerne. Der Anwalt verziert die Plätzchen akkurater als die kreative Hutmacherin und die frühere Bibliothekarin hat die Bücher in ihrem Zimmer nach einem eigenen System sortiert. Auch die Zuneigung ist manchmal ungebrochen: Bewohnerin Marianne hat neben ihren Möbeln und persönlichen Sachen auch Hund Timo mit in die WG gebracht. „Der Kleine geht mir über alles“, sagt sie und rückt das Pailletten verzierte Halsband des Terriers zurecht.
Jürgen Hoerner setzt seinen Gang durch die WG fort. „Die Angehörigen spielen eine wichtige Rolle“, erklärt er. Wenn man so wolle, seien sie der Träger der WG. Sie entscheiden und gestalten alles: Welcher Pflegedienst engagiert wird, welche Aktivitäten im Alltag angeboten werden, wer einziehen darf. Sie treffen sich nicht nur regelmäßig in einem eigenen Gremium, sondern kommen auch häufig zu Besuch – oft selbst dann noch, wenn die eigenen Verwandten bereits verstorben sind. Die WG ist nicht nur für die Bewohner, sondern auch für die Angehörigen eine Schicksalsgemeinschaft. Das verbindet. Wer einfach Verantwortung abgeben möchte, ist mit einer Demenz-WG schlecht beraten.
Während Jürgen Hoerner erzählt, taucht eine zierliche Frau vor ihm auf, hakt sich wortlos unter und geht ein paar Schritte mit. Die stille Sophia Neuhaus ist eine besondere Bewohnerin. Nicht ihre Kinder haben sie in die WG gebracht, sondern ihr Ehemann Theo. Am Vormittag war er hier, um nach seiner Frau zu sehen. Sie hat ihn nicht erkannt. Dabei ist ihr gemeinsames Leben noch gar nicht so lange her. Theo erinnert sich noch gut – auch daran, wie die Krankheit langsam begann, am gemeinsamen Lebensabend zu nagen. 2006 diagnostizierten die Ärzte bei der damals 72-Jährigen Alzheimer. „Das Bewusstsein der Perspektivlosigkeit dieser Krankheit war am schlimmsten“, erinnert sich ihr Mann. Keine Heilung, keine Besserung – nur der vorgezeichnete Weg ins Vergessen. Früher sind die beiden viel gereist, haben Museen und Theater besucht. Jetzt wandert Sophia mit lautlosen Schritten und gefalteten Händen über die Flure in der WG, während Theo zu Hause versucht, alleine zurecht zu kommen. „Manchmal fühle ich mich wie ein mentaler Witwer“, sagt er, „meine Frau ist da und fort zugleich.“ Die Demenz-WG aber hat sein Leben erleichtert. Weil er Gleichgesinnte getroffen hat und seine Frau gut aufgehoben weiß. „Demenz schafft eine furchtbare Situation, in die niemand kommen will. Aber in der WG macht man das Beste daraus – das gibt mir inneren Frieden und Raum zum Luftholen.“
* Die Namen der Bewohner wurden von der Redaktion geändert
20.06.2022
Diagnose
09.05.2022
Pflege zu Hause
01.04.2022
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